Sprecherin: Isabel Maria Groll
Die Furcht vor den Menschen
Bald war man sich gewiß, daß es zum bewältigen auch dieser Kolosse keiner Feuergewehre bedurfte, wenn man ihre Felle und Skelette für die heimischen Museen wünschte.
Und vollends die Pinguine, diese drolligsten Südpolarler, behandelten das Menschenvolk völlig wie ihresgleichen. Sie traten herzu, hielten lange und eindringliche Reden in ihrer unverständlichen Sprache, versetzten auch Schnabelhiebe und Flossenpüffe, wenn man ihre eng gedrängte Kolonie durchschritt, aber offenbar auch das nur nach den Regeln eines gewissen derben Anstandskomments, den sie ebenso unaufhörlich untereinander übten. Der Leipziger Professor machte sich gelegentlich den Spaß, eine ganze Herde solcher ein Meter hohen Königspinguine eine halbe Stunde lang vor sich herzutreiben oder, besser gesagt, zu einem gemeinsamen Spaziergang zu animieren. Gravitätisch watschelten sie mit ihm dahin, anzuschauen wie die Rektoren der Hochschulen im Ormnate, die, »jeder von dem eigenen Werte genügend durchdrungen, zur Audienz antreten«. Gegen zu rasches Tempo lehnten sie sich sanft auf, fröhlich dagegen stimmten sie mit ihrem »Kräh! Kräh!« ein, als der menschliche Führer einen Wandergesang intonierte. Die lustige Tour endete leider auch diesmal etwas traurig, denn am Ufer griffen de Matrosen die schönsten Exemplare heraus und schleppten sie lebendig an Bord.
Nach diesen Angaben, die nicht romantischen Fabulierem, sondern emsten, sogar hervorragend kritisch veranlagten Naturforscher verdankt werden, kann über die Grundtatsache der »Menschenfreundlichkeit« nichtgejagter Tiere kein Zweifel sein.
Diese Tatsache aber muß nun auch für unsere Zeit und Denkrichtung vom allerhöchsten Interesse sein.
Es gibt, so zeigt sie, keinen allgemeinen »Urinstinkt« des Tieres, der gegen den Menschen gerichtet wäre. Im Zeitalter Darwins mit seiner Lehre vom Kampf ums Dasein denken wir ja unwillkürlich zunächst, das Feindliche müsse allemal das Erste und Ursprüngliche sein. Wir vergessen aber dabei, was für eine ungeheure Rolle auch in der sich selbst überlassenen Natur die gegenseitige Freundschaft und Hilfe längst und von früh an gespielt haben und noch spielen. Wir vergessen den urgeborenen Trieb der Tiere zum Geselligen, und wie aus ihm zunächst keineswegs Kampf und Flucht einem neuen Wesen gegenüber resultieren. Daseinskampf im Sinne, daß die Wesen um Ihre Existenz ringen mußten, ist ja gewiß eine uralte Erscheinung auf Erden. Aber die engere Form, daß dabei gerade das lebendige Mitwesen befehdet und gefürchtet wurde, ist keineswegs eine absolute, sondern vielfach erst eıne ganz nachträgliche, sekundäre gewesen. Mächtiger als sie war von Begnn an der Versuch, durch Zusammenhalten Vieler und gegenseitige Hilfe dee gemeinsames Not des Daseins zu ertragen und das Glück des Daseins positw zu vermehren. Daher schon die Zellenstaaten, dann die Liebesbünde, die Tiergenossenschaften und Tierstaaten, all diese unendlichen Wege und Ziele, deren höchste Krönung ja schließlich eben auch die unendlichen Regungen und Segnungen des menschchen Gesellschaftsiebens selber sind, ohne die der Kulturmensch gar necht denlsbar ist und denen bei uns das entspringt, was wir Ethik nennen.
Daß die Robbe, daß der Pinguin, die von Haus aus bereits extrem gesellige Tiere sind, den neu erscheinenden Menschen nicht als Gegner nehmen, ist also nur das Nächstliegende. Der »Feind« ist ihnen ein in eın paar besummten Formen präzisıerter leidiger Einzelfall – das Anschlußfähige, Anschmiegsame, Mittuende dagegen sozusagen die Normalsache. Soll man die traditionelle Auffassung eınes solchen Tiers menschlich ausdrücken, so würde sie wohl ungefähr lauten: es gibt en paar Spitzbuben in der Welt, die diese oder jene bestimmte Livree tragen, jensents dieser Ausnahmen aber ist die Masse treu, und was neu ist, werd zunächst necht eben für eine Ausnahme, sondern für die Regel gewertet werden. Der Begriff des allen Mittieren und Neutieren gegenüber wahnsinnıg verscheuchten und ansonst mißtrauischen Wesens, wie ihn eine falsche Konsequenz der Darmnschen Ideen erzeugt hat, wird von uns erst künstlich in den Normalzustand hineingedacht. Wohl aber ist natürlich auch ein Werteres wahr.
Wenn der Mensch sich solchen an sich gesellschaftlich wohlwollenden Tieren gegenüber eine Weile als obstinate Räuberausnahme geriert, so fängt auch das Tier an, ihn als solche individuelle Ausnahme einzuschätzen, und gewisse Schutzorganisationen seiner Natur schaffen das in kürzerer oder längerer Frist zu einem festen Instinkt um.
In unglücklichen Fällen kommt die Bedrohung ja rascher, als daß diese Selbsthilfe nachkommen kann. So waren die guten dicken Drontenvögel von Mauritius, truthahngroße Tauben, die jeden fremden Matrosen auch zuerst als Genossen begrüßt hatten, im Nu von den proviantbedürftigen Holländern bis auf den letzten Kopf hingemordet, ehe sich von innen heraus irgend etwas bei ihnen auflehnen – konnte. Bei ein wenig Spielraum aber wird der Instinkt, der das Menschenwesen fürchten lehrt, nicht ausbleiben.
Auf was für einem Wege er sich durchsetzt, das ist ja heute eine Streitfrage für sich. Die einen nehmen schlicht an, daß die Tiere einzeln allmählich durch Schaden klug werden und den Gegner kennen lemen, und daß sich diese Eriahrung allmählich schon als zwingender Instinkt auf die Jungen vererbt; andern ist gerade das nicht genehm, und sie suchen verwickeltere Erklärungspfade; aber das sind Nebendinge, die das Faktum nicht ändern.
Darwin selbst merkte schon, daß die Vögel auf den Falklandinseln zu seiner Zet nicht mehr ganz so zahm waren wie siebzig Jahre früher. Ein Zugvogel der Inseln, der schöne schwarzhalsige Schwan, hatte aber schon damals überhaupt keine Menschenfreundschaft gezeigt: seine Vorfahren hatten auf ihren Wanderungen scheinbar längst anderswo gelernt, daß der Mensch ein Feind sei, und brachten diese Weisheit schon mit ins »Paradies«.
Ebenso beobachteten die Gelehrten von der »Valdivia« mit Staunen, daß ein Tier der Kerguelen in ausgesprochenster Weise die Flucht vor dem Menschen ergriff: nämlich das Kaninchen. Aber auch diese Kerguelenkaninchen waren erst junger Import, eine englische Expedition hatte sie nicht lange vorher ausgesetzt. Wohl hatten sie si h auf dem guten Boden Ins Unbegrenzte vermehrt, so daß jener interessante Kerguelenkohl ihrem vereinten Appetit bereits bedenklich zu erliegen begann. Aber noch war auch in ihnen mit ganzer Kraft der Instinkt ihrer wahren Heimat lebendig – der Instinkt der Flucht vor dem Menschenfeinde, den ihre Ahnen in langer Notzeit dort sich ausgebildet.
Wen ergreift es nicht mit einer gewissen Tragik, wenn er von diesem »Umlernen« des Tieres hört!
Der Mensch trat eines Tages auf diese Erde, zwischen die Tiere mit ihren unverwüstlichen Geselligkeitstrieben. Die Blüte seiner Kultur verdankte auch er der Existenz solcher Geselligkeitsformen seines eigenen Lebens. Auf ihnen beruhen Sitte, Recht und Staat, Mitleid und Menschenliebe und die Idee aufopfernder Hingabe, die zuletzt die Wurzel unseres ganzen Ideallebens bildet, bei ihm. Der schwarzhalsige Schwan und das Kaninchen aber haben ihn bloß als bösen Feind in den Kodex ihrer natürlichen Schutzzüchtungen aufnehmen müssen!
Aber unwillkürlich denken wir, daß sich doch auch hier schon wieder etwas ändert. Hat sich im Tier etwas ändern müssen, so ändert sich jetzt wieder allmahlich etwas im Menschen. Indem wir uns auf Tierschutz besinnen, einsehen, daß es nicht so fortgehen könne mit dem wüsten Hinmetzeln und Zerstören, indem wir plötzlich einen neuen Standpunkt der Freude und der Achtung auch vor dem Tier uns zu erringen beginnen, bahnt sich von uns aus ein neuer entscheidender Umschwung an.
Wo das Tier sich nur im Notzwange anpassen konnte, da bewähren wir Menschen eine neue und edlere Entwicklung aus eigener Kraft.
Und es wird die Zeit kommen, wo auch diese veränderte Front sich im Tier selbst geltend machen wird. Seine Geselligkeitstriebe zum Menschen, der ihm in neuer Weise entgegenkommt, werden neu erstarken. Und es wird ein Triumph für uns selbst sein, wenn wir das eines Tages im ganzen zu bemerken beginnen – wie es heute schon hier und da ein paar zusammenhaltende Nachbarn erleben, die in ihren Gärten die kleinen Vögel nicht abschießen, sondern hegen und zutraulicher zu machen suchen und die in diesen Gärten bereits wieder diese verscheuchten Vögelchen sich versammeln sehen wie in eınem Asyl —, ein erster blauer Schein wieder von der neuen Insel des Paradieses, die diesmal nicht in Wolkenkuckucksheim, noch in entlegenen Polarbreiten hegt, sondern in der erstarkenden Wärme des Menschenherzens selbst.